Höflich, freundlich, hilfsbereit und verantwortungsbewusst. Das wären wohl Adjektive, mit denen man die junge Frau beschreiben würde. Ihre Lehrer würden sie zusätzlich noch als ehrgeizig, klug und fleißig bezeichnen. Ihre Freunde sie als zuverlässig, loyal und gutherzig. Aber in Wirklichkeit ist Kelsey viel mehr als das. Oder vielleicht auch nicht? Seit sie mit 15 Jahren erfahren hat, dass sie eine halbe Native ist, hat sich ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Schon immer hatte sie das Gefühl, nirgendwo richtig hineinzupassen, obwohl sie sich stets anstrengte, es allen in ihrem Umfeld recht zu machen – und es noch immer tut. Dass man es nicht immer allen Menschen recht machen kann, muss sie noch lernen, auch wenn sie sich über die Jahre hinweg ein dickes Fell angeeignet hat und sehr wohl verbal austeilen kann, wenn sie beleidigt wird. Wenn es sein muss, packt sie zur Selbstverteidigung auch ihre Karate-Skills aus.
Kelsey ist nichtsdestotrotz ein sehr emotionaler Mensch, was sich deutlich in ihren Zeichnungen und Malereien widerspiegelt. Schon als kleines Mädchen fand sie Freude am Malen und dekorierte zum Leidwesen ihrer Mutter die Tapeten der kleinen Wohnung mit bunter Farbe. Heute greift sie lieber auf ihr Skizzenbuch zurück, das sie immer bei sich trägt und verewigt ihre Kunstwerke auf Leinwand. Sie liebt es, in der Natur zu sein und sich von ihrer Schönheit inspirieren zu lassen. Ebenso liebt sie es, einfach mit ihren Kopfhörern auf dem Gras zu liegen und der Musik auf ihren Ohren zu lauschen. Ein manches Mal, wenn sie sich nicht beobachtet fühlt, kann man sie sogar laut und kräftig mitsingen hören. Ihre Mutter sagt immer, dass sie das Gesangstalent von ihrem Vater hat, aber davon ist Kelsey nicht ganz überzeugt.
Auf die Frage, ob sie sich eher wie eine „Weiße“ oder eine Native fühlt, findet sie keine Antwort. Sie hat ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden. Versteht auch nicht, wieso das alles so kompliziert sein muss. Waren sie am Ende nicht alle Menschen?
Geboren wurde sie in Lakota Springs und wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Schon früh lerne sie, für sich selbst zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen. Während ihre Mutter arbeiten ging, um für den Lebensunterhalt zu sorgen, kümmerte sich Kelsey bereits mit 8 Jahren um den Haushalt, putzte, wusch und kochte. Dennoch vernachlässigte sie nie ihre Schulaufgaben und zeichnete sich als eine fleißige und ehrgeizige Schülerin aus. Sie zählte zu einer der Klassenbesten und wurde deswegen nicht selten als Streberin bezeichnet. Doch das war bei Weitem nicht die Schlimmste Bezeichnung, die man dem jungen Mädchen an den Kopf warf. Durch ihre äußere Erscheinung fing sie sich häufig verachtende Blicke ihrer Mitschüler ein. Sie klauten ihr ihr Pausenbrot und zerrissen ihren Skizzenblock. Monatelang schikanierten ihre Mitschüler die damals 12-Jährige, wo sie nur konnten.
Zuhause versuchte sich Kelsey nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie unter den Mobbingattacken litt, doch ihre Mutter kannte sie besser. Dabei hatte ihre Mutter genau das stets versucht zu vermeiden, wollte ihre Tochter vor der Abgrenzung bewahren und erzählte ihr deswegen eine Lüge. Als Kelsey sechs Jahre alt war, sagte sie ihr, dass ihr Vater ein Hawaiianer sei und sie das Produkt einer kurzen Urlaubsliebe. Diese Geschichte trug sie weiter, doch hielt sie nicht alle Mitschüler davon ab, sie zu ihrem persönlichen Mobbingopfer zu machen. Es war eine schwierige Zeit für den heranwachsenden Teenager, der sich daraufhin immer mehr in sein Schneckenhaus verkroch.
Obwohl das Geld in der Familie immer ziemlich knapp war, meldete Kelseys Mutter ihre Tochter beim Karate an. Es war das wohl einzig Richtige, was sie machen konnte. Nach und nach wurde das junge Mädchen selbstsicherer. Sie lernte nicht nur sich körperlich zu verteidigen, sondern dadurch auch automatisch sich verbal zur Wehr zu setzen. Und genau das zeigte schließlich Wirkung. Das Mobbing hörte auf, ihre Mitschüler begannen sie zu respektieren. Vielleicht sahen manche von ihnen das Mobbing sogar als eine Art von Prüfung an, die Kelsey nun bestanden hatte. Sie begann Freundschaften zu knüpfen, wurde offener und sozialer. Sie integrierte sich, wo sie nur konnte, mischte im Chor und bei den Cheerleadern mit und schaffte es sogar in den Schülerrat. Zu den beliebten Kids zählte Kelsey nie, auch wenn sie sich insgeheim immer danach sehnte. Das Mädchen schien ständig auf der Suche nach sich selbst, nach Anerkennung und vor allem nach Zugehörigkeit zu sein.
Mit 15 Jahren glaubte sie, es endlich geschafft zu haben. Einer der beliebtesten Jungs an der Schule hatte ein Auge auf sie geworfen: xx xy. Insgeheim hatte Kelsey xx schon lange beobachtet, hätte sich aber niemals erträumt, dass er sich irgendwann einmal für sie interessieren könnte. Die beiden Teenager könnten kaum unterschiedlicher sein. Sie waren wie Tag und Nacht, wie Feuer und Wasser. Aber vermutlich waren es genau diese Gegensätze, die sie zueinander hinzogen.
Nach einigen Dates wurden xx und sie schließlich ein Paar. Er war ihr erster Freund, der erste Junge, den sie küsste und der, mit dem sie ihr erstes Mal erleben wollte. Doch dazu sollte es nie kommen, aber dazu später mehr. Denn erst einmal begann sich das Leben der 15-Jährigen vollkommen auf den Kopf zu stellen, als sie auf der Straße von einem wildfremden Mann angesprochen wurde – von einem Native, der ihre Mutter scheinbar sehr gut kannte.
Ihr bisheriges Leben hatte Kelsey einen großen Bogen um die Natives gemacht. So, wie es der Großteil der Gesellschaft von einem verlangte. Und nun stand auf einmal dieser fremde Mann vor ihr und behauptete, ihr Vater zu sein. Das Gesicht ihrer Mutter sprach Bände, als sie zwischen dem Native und ihrer Tochter hin- und her sah. Es war wahr. Ihre Mutter hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben angelogen. Auch wenn Kelsey die Gründe verstand, war sie unheimlich wütend darüber. Fast 16 Jahre hatte ihre Mutter ihr ihren Vater verweigert, hatte ihm sogar verboten, Kontakt mit seiner Tochter aufzunehmen. Ahanu hatte sich daran gehalten, weil er wusste, was Kelsey blühte, wenn man von ihrer Herkunft erfuhr. Auch wenn es dem Native noch so schwer gefallen war.
Es dauerte ein paar Tage, bis die Teenagerin diese Nachricht verdaut hatte und letzten Endes die Neugierde siegte. Sie wollte ihren Vater kennenlernen und betrat zum ersten Mal das Reservat. Mit skeptischen Blicken wurde sie dort in Empfang genommen, man beobachtete sie mit Adleraugen. Doch je öfters sie ihren Vater dort besuchen kam und je mehr Interesse sie an der für sie völlig fremden Kultur zeigte, desto aufgeschlossener wurde auch das Volk. Kelsey lernte die Familie ihres Vaters kennen und ihren Cousin Ohanzee, den sie bislang in der Schule ignoriert hatte. Sie fühlte sich wohl im Reservat und trotzdem entschied sie sich dazu, ihre Herkunft in der Schule weiterhin geheim zu halten. Aus Angst, nicht mehr dazu zu gehören. Sie verschwieg es ihren Freunden und verschwieg es ebenso ihrem Freund xx. Doch wie sagte man so schön? Lügen kamen früher oder später immer irgendwann ans Licht.
Es war xx, der ihr eines Tages nach der Schule folgte und ihr unbemerkt bis zum Reservat nachstellte. Er war wütend, fühlte sich von seiner Freundin verraten. So gab er Kelsey nicht einmal die Möglichkeit, sich zu erklären, sondern schmiedete hinter ihrem Rücken seine Rache. Als die 16-Jährige am nächsten Tag die Schule betrat, starrten ihre Mitschüler sie alle angewidert an. Die Worte ‚Dreckiges, verlogenes Halbblut‘ standen in verschmierten Buchstaben auf ihrem Spint. XX hatte an alle Mitschüler Bilder von ihr im Reservat geschickt und offenbart, dass ihr Vater kein Hawaiianer, sondern ein Native war.
Von diesem Tag an war nichts, wie es einmal war. Ein Großteil ihrer sogenannten Freunde wandte sich von ihr ab. XX beendete die Beziehung und gab zu, dass er es gewesen war, der sie geoutet hatte. Nicht einmal mehr eine Hand voll Freunden blieben Kelsey. Doch immerhin wusste sie nun, wer ihre wahren Freunde waren. Ohanzee stand ihr während dieser schwierigen Zeit stets zur Seite und machte ihr immer wieder bewusst, dass sie eigentlich gar nichts verloren, sondern viel mehr diese wichtige Erkenntnis gewonnen hatte. Und auch wenn es Kelsey noch immer schmerzte, dass sie aufgrund ihrer Wurzeln ausgrenzt wurde, versuchte sie sich nicht kleinkriegen zu lassen. Wann immer jemand ihr einen fiesen Spruch über ihre Herkunft hineindrückte, schoss sie mit einer schlagkräftigen Antwort zurück. Dabei wünschte sie sich nur eines: Dass alle Menschen gleich behandelt wurden und friedlich zusammenleben konnten. Doch davon waren sie alle noch weit entfernt. Noch viel, viel weiter als sie dachten – wie sich im März 2020 herausstellte als ein heftiges Unwetter alle Erwachsenen und Kinder verschwinden und den Krieg zwischen den Weißen und Natives erst richtig entfachen ließ …